«Unsere Seelsorge ist gefragt»

Die neue Kirchenratspräsidentin Esther Straub über die Stärken der Reformierten, das Engagement für Menschen in Not und die Sehnsucht nach Frieden, die mehr ist als ein «frommer» Wunsch.

Sie sind die erste Frau in der 500-jährigen Geschichte der Zürcher Reformierten, die dieser Kirche vorsteht. Was bedeutet das für Sie – und für die Kirche?

Einerseits sehe ich das als einen Erfolg für die Frauen, und ich fühle mich mit all jenen verbunden, die dafür gekämpft haben. Andererseits macht mich nachdenklich, wie lange das auch bei uns Reformierten gedauert hat. Vor gut hundert Jahren wurden in Zürich die ersten Theologinnen ordiniert. Ein Pfarramt übernehmen durften Frauen dann aber erst ab 1963. Und ich war bei meiner Wahl in den Kirchenrat 2015 erst die zweite Pfarrerin in diesem Gremium und jetzt die erste im Präsidium. Zu überheblich dürfen wir punkto Gleichstellung also nicht auftreten.

Trotzdem hat das Signalwirkung.

Unbedingt. Denken Sie zum Beispiel an interreligiöse Veranstaltungen, bei denen oft nur männliche «Geistliche» auftreten. Da wird sofort sichtbar, dass die Reformierten Ernst gemacht haben mit der Gleichstellung.

Sie bestimmen als Kirchenrätin den Kurs der Kirche seit einigen Jahren mit. Im Präsidium können Sie nun mehr Einfluss nehmen. Welche Themen liegen Ihnen am Herzen?

Die Bevölkerungsumfrage aus der neuen Studie der Universität Zürich zeigt, dass Seelsorge die am höchsten geschätzte Tätigkeit der Kirche ist. In meinem Ressort war ich für Seelsorge in den Institutionen zuständig und habe wahrgenommen, dass ihre Besonderheit darin liegt, dass sie von einer Glaubensgemeinschaft verantwortet wird. Dass Kirche kein Dienstleistungsunternehmen ist, sondern eine Körperschaft, macht sie in unserer individualisierten Gesellschaft attraktiv und wurzelt in einem theologischen Grund: Das Wort Gottes verbindet uns untereinander und ruft in die Gemeinschaft. Ich bin überzeugt, dass diese Konstitution von Kirche eine grosse Dynamik entfalten kann, auch in anderen kirchlichen Tätigkeiten als der Seelsorge. Die Gemeinschaft zu fördern, liegt mir am Herzen.

Kriege, Flüchtlingselend und soziale Not: Sie übernehmen das Kirchenratspräsidium in schwierigen Zeiten. Was kann die Kirche für die Menschen leisten?

Es ist mir wichtig, dass die Kirche für die Opfer der Kriege da ist und für sie einsteht. Wir können mit konkreten Projekten dazu beitragen, dass sich geflüchtete Menschen bei uns willkommen fühlen. Darüber hinaus spielt die Kirche im interreligiösen Dialog eine wichtige Rolle, wir müssen dafür arbeiten, dass der religiöse Frieden und der gute Austausch unter den hier wirkenden Religionsgemeinschaften gestärkt werden.

Wie soll sich die Kirche in Zeiten der Kriege verhalten?

Die Sehnsucht nach Frieden aufrechterhalten. Im politischen Diskurs ist die Rede von Frieden fast unmöglich geworden. Pazifistische Ideen gelten als naiv. Die Kirche bietet Raum, Verzweiflung zu teilen und für den Frieden zu beten. Und die Bitte nach Frieden ist in diesem Raum gerade kein frommer Wunsch, sondern entfaltet glaubwürdig die Vision, dass Menschen sich statt als Feinde als Mitmenschen erkennen.

Die Reformierten haben seit Jahren mit einem Rückgang an Mitgliedern und Einfluss in der Gesellschaft zu kämpfen. Was tun?

Wir müssen unterscheiden: Der Mitgliederverlust ist schwierig zu bremsen. Hier spielen gesellschaftliche Megatrends eine Rolle und manchmal auch seltsame Faktoren wie jener, dass Mitglieder bei uns austreten wegen Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche. Die gesellschaftliche Relevanz der Kirche ist allerdings nicht nur an ihre Grösse geknüpft. Auch als kleinere Gemeinschaft können wir relevant sein. Auf unsere glaubwürdigen Inhalte und konkret auch auf unsere diakonischen und seelsorglichen Leistungen für die Gesellschaft müssen wir unser Augenmerk lenken und diese Leistungen innovativ und tatkräftig weiterentwickeln.

Interview: Christian Schenk

Esther Straub ist die erste Kirchenratspräsidentin der Reformierten Kirche des Kantons Zürich

Esther Straub, 1970, studierte von 1990 bis 1996 Theologie in Zürich und Paris und war anschliessend bis 2002 Assistentin am Lehrstuhl für Neues Testament an der Uni Zürich. Sie hat 2002 mit einer Arbeit zum Johannesevangelium promoviert. Seit 2003 ist sie Pfarrerin in Schwamendingen und sass von 2015 bis 2023 für die SP im Zürcher Kantonsrat. Sie gehört der Religiös-sozialen Fraktion an.