«Ein warmes Herz öffnet Hände zum Helfen»

Über 20 Jahre lang war Christoph Sigrist Pfarrer am Grossmünster. Jetzt tritt er ab. Das soziale Engagement für Menschen, die nicht auf Rosen gebettet sind, liegt dem langjährigen Altstadtpfarrer und Dozenten für Diakonie am Herzen. Wie schaut er aus dieser Optik auf «seine» Stadt? 

Wie zeigt sich Armut in Zürich, in einer der reichsten Städte der Welt? 

Die Armut ist versteckt hinter den Fassaden. Sie hat oft Migrationshintergrund. Und sie ist grösser geworden in der Zeit, in der ich Stadtpfarrer war. Auch bürgerliche Familiensysteme sind von prekären Arbeitssituationen, die kaum zum Leben reichen, betroffen. Deutlich wurde das für mich zum Beispiel in der Notwohnung, die wir in der Kirchgemeinde Grossmünster Einzelpersonen oder Alleinerziehenden permanent zur Verfügung stellten.

Wie kann Kirche auf Armut reagieren? 

Entscheidend ist die Vernetzung mit anderen helfenden Institutionen. Die Kirchen können die diakonische Arbeit nicht mehr alleine leisten. Es ist eine Freude, wie viele sich in der Stadt für Notleidende engagieren.

Beispielhaft dafür ist die Entstehung von «Solidara», vormals Stadtmission, die sich für sozial Benachteiligte engagiert. Sie entstand aus der Evangelischen Gesellschaft in Zürich, die in der Erweckungsbewegung wurzelt. Heute hat «Solidara» nicht nur eine ökumenische, sondern auch eine interreligiöse Trägerschaft. Jüdische Gemeinden tragen hier mit, und auch mit muslimischen Gemeinden sind wir in Kontakt. Ich konnte als Stiftungsrat diese erstmalige interreligiöse Trägerschaft einer diakonischen Institution mitgestalten. 

Wie erlebten Sie Armut persönlich als Stadtpfarrer auf der Strasse – man kennt Sie ja überall? 

Die Begegnungen auf der Gasse haben mich und haben auch meine Predigten auf der Kanzel geprägt. Armut begegnete mir in grosser Vielfalt, die Menschen vertrauten sich mir an, weil sie immer noch ein Urvertrauen in die Rolle des Pfarrers haben. Dies löste in mir immer wieder Betroffenheit aus, und Betroffenheit entzündet das innere Feuer zum Helfen. Ein warmes Herz öffnet Hände, die helfen können.

Die Begegnungen mit den Männern in der Herberge zur Heimat im Oberdorf oder die beeinträchtigten Frauen vom Wohnheim im Sihlfeld sind Beispiele dafür. Die Menschen beider Häu­ser begleiteten mich übrigens auch bei meinem Abschlussgottesdienst.

Manchmal kann die Betroffenheit auch zu viel werden. Wie gingen Sie damit um? 

Ich stieg dann jeweils auf den Grossmünsterturm, fluchte und lachte wie Don Camillo und schaute nach unten in die Gassen. Aus der Vogelperspektive wurde meist alles viel einfacher, als wenn man wie ein Frosch in den Gassen herumhüpft.

Sie bleiben Dozent für Diakonie an der Uni Bern und neu auch an der Uni Zürich. Was geben Sie den Studierenden auf den Weg? 

Es geht darum, weiter zu erforschen und zu lehren, wie der diakonische Auftrag der Kirchen im urbanen Umfeld neu beschrieben und vernetzt mit anderen umgesetzt werden kann. Das ist zukunftsweisendes diakonisches Handeln.

Interview: Christian Schenk

Christoph Sigrist

«Wenn mir alles zu viel wurde, stieg ich auf den Grossmünsterturm und fluchte und lachte wie Don Camillo», sagt Christoph Sigrist. Von hier aus sprach der Grossmünterpfarrer ab und an auch einen Alpsegen.