Reformiert in fünf Attributen
Biblisch
Nein, Zwingli hat nicht die Bibel wiederentdeckt. Revolutionär war aber, dass zwischen Einzelmensch und Gotteswort keine Instanz mehr stehen sollte. Niemand, der den Zugang reguliert. Das Privileg der Kirche, alleinige Hüterin von Wort und Mahl zu sein, wurde abgeschafft. Jeder sollte die Bibel selbst lesen können, an jedem Ort, zu jeder Zeit, in allen Teilen. Ohne Mittlerin sollte er mit ihr leben und lernen. Pfarrer, Diener des Worts durch dessen Interpretation, wären seine Unterstützer.
So ist die Zürcher Reformation eine Bildungsbewegung. Schulen, Universitäten, Bibliotheken entstanden, nun aber für alle. Was Bildung für die Gesellschaft bedeutet, ist den Nachrichten täglich zu entnehmen. Eine gebildete Welt ist auch eine blühende und sichere Welt. Religiöse Bildung ist der interreligiöse Trumpf der Reformierten.
Individuell
Der Einzelne wurde vom Objekt zum Subjekt, vom Kind zum Erwachsenen. Mündig und verantwortlich für seinen Glauben. Nicht mehr Mutter Kirche entschied für ihn. Er lernte, selbst zu denken. Auch kam er nicht mehr als Angehöriger eines Standes oder einer Zunft in den Blick, über den bereits entschieden war. Niemand mehr war er hörig ausser Christus. Das erste solus der Reformation: Einzig dem Christus schulde ich meinen Glauben. Er spricht mich an, ihm verantworte ich mich.
Die Reformation ist eine Emanzipationsbewegung. Kritisch sind die Reformierten, wenn Mächte sich selbstherrlich entfalten und dem Einzelnen sein Leben diktieren. In welchem Gesellschaftsbereich auch immer, niemand führt den Einzelnen zurück nach Ägypten. Die Freiheit des Einzelnen ist der moralische Trumpf der Reformierten in der gesellschaftlichen Debatte über Werte.
Partizipativ
1414 wurde in Prag das Mahl kommunisiert, 1531 in Zürich das Wort. Alle, auch Kinder und Gäste, sollten Zugang haben zu Abendmahl und Bibellektüre. So wurden sie von Kindern der Mutter Kirche zu Teilhabern am Projekt Kirche. In Disputationen wurden sie einbezogen. Zukunft war nicht mehr geheim, sondern wurde öffentlich. Partizipation eroberte sich vom Religiösen her alle Bereiche gemeinsamen Lebens. Teilhabe durch Mündigkeit und Verantwortung ist ein demokratischer Grundwert.
Die Reformation ist eine Demokratisierungsbewegung. Der Autonomie des Individuellen aber hält die Solidarität mit dem Kommunalen die Waage. Solche Errungenschaften sind teuer und fragil. Sie wurden mit furchtbaren Kriegen bezahlt. Ohne die Teilhabe aller entsteht nichts Nachhaltiges. Ein überall gefährdetes Gut. Man muss es schützen vor der Privatisierung von allem und jedem. Die Öffentlichkeit des Gemeinsamen, auch der Religion, ist ein reformiertes Kernanliegen.
Urban
Die reformierte Reformation war urban verankert. Der Freiheitsdrang der Städte gehörte zu ihr, von Prag bis Genf, von Zürich bis Debrecen und Edinburgh. Hier ging es nicht um die Reform von Mönchsorden, nicht um Korrekturen an der Weltkirche. Die Neugestaltung der Stadt stand an. Pfarrer waren nicht mehr geweihte Glieder eines Stands, sondern Berufsleute wie andere, Mitbürger. Gebildete Urbanität hat ganze Landschaften verändert, von den Niederlanden bis Südafrika, von Böhmen bis Neuengland. Die Schweiz sowieso.
Die Reformation ist auch eine Bürgerbewegung. So haben aktuelle religiöse Einsichten die Entwicklung der Stadt nicht behindert, sondern gefördert. Die Stadt ist die Avantgarde der Gesellschaft. In ihren Planungen muss auch Religiöses Ausdruck finden, soll es nicht zur Subkultur werden, möglicherweise einer gefährlichen. Religion bleibt delikat, kann aber auch die Delikatesse einer Stadt sein.
Eschatologisch
Ein Fachbegriff ohne Gegenstück. Gemeint war, dass Ideale in Zeit und Raum unerreichbar bleiben. Weder den vollendeten Staat kann es geben noch die vollendete Kirche. Reformierte glauben deshalb nicht an unüberwindbare Zustände. Das Bessere liegt vorn, und das Beste kommt erst noch. Es bleibt Gottes Versprechen, das in der Bibel hörbar wird.
Die Reformation ist auch eine Hoffnungsbewegung. So aber lohnt sich Engagement für Gutes. Es lässt sich nicht herbeizwingen, bleibt aber versprochen. So gibt sich eine Gesellschaft, die eschatologisch tickt, mit einmal Erreichtem nie zufrieden. Stets gibt es Besseres, zuerst für die Gemeinde und durch sie für das Gemeinwesen. Für alle liegt der Advent vorn.