Schriftverständnis Zwinglis
Nachdem Zwingli die kirchliche Tradition angegriffen hatte (Fastenbruch, Ablehnung der Heiligenverehrung, des Zölibats und der Mönchsgelübde), sah er sich zu einer Rechtfertigung seiner provokativen Äusserungen und Handlungen gezwungen. Der Reformator verteidigte sein Vorgehen mit dem Schriftprinzip, zu dem er sich erstmals zusammenfassend mit seiner Schrift „Die Klarheit und die Gewissheit des Wortes Gottes“ (1522) äusserte. Darin machte er deutlich, dass weder der Papst noch die Kirchenväter und die Konzile in religiösen Fragen wirklich Autorität besitzen. Prüfstein sei allein die Bibel. Die Heilige Schrift enthält und ist das Wort Gottes. Die Kirche besitzt nicht die Autorität, über die richtige Auslegung zu wachen, sondern ist nur Empfangende. Die Schrift besitzt selbst Klarheit und Licht; sie beginnt dort zu leuchten, wo der Heilige Geist den Sinn des Hörers aufschliesst (pneumatologisches Schriftprinzip).
Noch zwei Besonderheiten in Zwinglis Schriftlehre seien erwähnt:
a) Da Gott mit den Menschen einen einzigen Bund geschlossen habe, der in Christus erneuert worden sei, sprach Zwingli auch von der Wesensgleichheit des Alten und des Neuen Testamentes. Dabei ist nach ihm das Alte Testament im Licht des Neuen zu lesen; Zwingli versuchte im Alten Testament den „verborgenen Christus“ zu entdecken.
b) Massgeblich bei der Auslegung ist der natürliche Schriftsinn oder Literalsinn. Doch lässt Zwingli auch die typologische Deutung des Alten Testamentes, falls im Neuen nachgewiesen, stehen. Die Allegorese lässt der Reformator nur als „Nachtisch“ gelten. Hingegen besass der moralische Sinn der Schrift für Zwingli mehr Bedeutung, z.B. der „usus civilis / politicus“ des Alten Testamentes in Bezug auf politische und ethische Fragen des Zürcher Stadtstaates.
Die wichtigste Quelle:
Die Klarheit und die Gewissheit des Wortes Gottes, in: Huldrych Zwingli Schriften I, S. 101-154.
Sekundärliteratur:
Ernst Nagel: Zwinglis Stellung zur Schrift, Freiburg i.Br. / Leipzig 1896.
Ch. Scheidegger am 18. Juli 2001 (bearb.)