Buchtipps
Christine Wunnicke: Die Dame mit der bemalten Hand. Berenberg Verlag, Berlin 2020.
Von der betrachtenden Neugier und der Kraft guter Geschichten
Inder kennen die Insel vor Bombay – das Mumbay der Gegenwart – als Gharapuri, Europäer nennen sie Elephanta. Auf ihr gibt es noch heute die Ruinen der gewaltigen Höhlentempel zu bestaunen, die dem Gott Shiva geweiht sind.
Im Jahr 1766 oder 1767 strandete hier Carsten Niebuhr, deutscher Mathematiker im Dienst der dänischen Krone, einziger Überlebender der sechsköpfigen Expeditionsgruppe, die auf Betreiben des Orientalisten Johann David Michaelis nach Arabien geschickt worden war, um durch ihre Erkenntnisse den Wahrheitsgehalt biblischer Erzählungen zu belegen. Freilich entwickelte sich die Reise anders als geplant. Bombay stand nicht auf dem Reiseplan, und schon gar nicht Gharapuri, diese vorgelagerte, öde Insel voller Gestrüpp und Schlangen, Affen und Ziegen.
Der Forschungsreisende aus dem Bremischen trifft dort auf den persischen Wissenschaftler und Erbauer wertvoller Astrolabien, Meister Musa, mit vollem Namen Musa ibn Zayn ad-Din Qasim ibn Qasim ibn Lutfullah al-Munaggim al-Lahuri. Auch ihn hat es, zusammen mit seinem Diener Malik, als Schiffbrüchigen auf die Insel verschlagen. Die beiden Gelehrten aus West und Ost sprechen Arabisch miteinander, der Meister aus Jaipur in poetischer Kunstfertigkeit, der kühle Norddeutsche in mühsamer Umständlichkeit. Mit Messungen am versunkenen Tempel und mit Geschichten vertreiben sie sich die Zeit bis zu ihrer Rettung. Sie debattieren freundschaftlich über Sterne und wundern sich, wie jede Kultur an den Himmel starrt, aber dort ganz andere Bilder in den Sternkonstellationen sieht: Ist Kassiopeia nun die Frau aus der griechischen Mythologie oder ist sie die bemalte Hand einer Himmelskönigin? Sie erzählen einander von ihren Vätern und wissen nicht: Ist es Wahrheit oder Lüge oder einfach eine gute Geschichte? Sie missverstehen sich östlich-westlich und respektieren einander doch, einen jeden in seiner Fremdheit.
Sind sie einander begegnet? Ist alles nur ein Fiebertraum? Oder die Fantasie einer gelehrten Frau in den Wehen?
Die Autorin Christine Wunnicke überrascht in diesem fein gesponnenen Roman mit einer genauen Beobachtung dessen, was in interreligiösen Dialogen misslingend doch irgendwie gelingt. Zudem schreibt sie in zauberhafter Poesie und mit herzhaftem Humor.
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Anne Weber: Annette, ein Heldinnenepos. Matthes & Seitz, Berlin 2020.
Wie stellen Sie sich denn eine Heldin vor?
Anne Weber lernt ihre Heldin in Südfrankreich kennen in einem Dorf namens Dieulefit – Gott hat s gemacht. Da ist Anne Beaumanoir eine hochbetagte, aber immer noch lebhafte und leidenschaftliche Frau mit hellblauen Augen. Ihr Leben wäre in wenigen Worten beschrieben: Mitglied der kommunistischen Résistance im Zweiten Weltkrieg, Neurologin, Mutter von 3 Kindern, engagiert in der Unabhängigkeitsbewegung Algeriens, verurteilt zu zehn Jahren Haft, nach abenteuerlicher Flucht beteiligt am Aufbau des algerischen Gesundheitssystems. Aber, fragt sich Anne Weber, müsste dieses Leben nicht eher besungen werden?
Doch, muss es. Und so entsteht ein einzigartiges Epos in Versform. Mit grosser Sprachkraft, mit Leichtigkeit und Tiefgang, folgt es den Wendungen und Flussläufen, den Schleichwegen, Fusswegen, Autofahrten und Fluchten, dem lebenslangen Unterwegssein einer Frau, die zu den Gerechten gezählt werden muss. Schon in den ersten Versen wird klar, warum. „Sie glaubt nicht an Gott, aber er an sie. Falls es ihn gibt, so hat er sie gemacht.“
Anne Beaumanoir wächst in einem Fischerdorf in der Bretagne auf, dort, wo das Wasser kommt und geht, wo es zweimal am Tag die Boote aufrichtet, die schon seit Stunden auf der Flanke liegen. Ihr Zuhause ist das Haus der Grossmutter, welches dieser nicht etwa gehört, sondern wo sie zur Miete wohnt. Sie wuchs in Armut auf, ging nie zur Schule und lebte vom Verkauf von Meeresgetier, das sie von Hand oder zu Fuss aufstöberte. „Annette liebt über alles diese Grossmutter, die reich ist nicht an Gütern und gebildet nicht durch Lektüren.“ Ihre andere Grossmutter stammt aus einem Herrenhaus, Beaumanoir eben, weshalb sie sich lange Zeit gegen die Heirat von Annettes Eltern sträubte. Sie hielt sie für eine Mésalliance, aber Annette hat wahrhaftig glückliche Eltern. Glück ist der Grundton einer unhörbaren, wärmenden Musik, die Annette durchs Leben trägt, ebenso wie die Unerschrockenheit und Herzlichkeit ihrer Eltern.
Obwohl Annette sich weit weg von allem Religiösen bewegt, kreuzt oder durchkreuzt es doch immer wieder ihren Lebensweg. Das ist der Grund, warum ich ihre Geschichte mit interreligiösem Interesse gelesen habe. Annette grämt sich darüber, dass Frankreich, wo sie dem Nazi-und Folterregime Hitlers unter Einsatz ihres Lebens widerstanden hat, nur wenige Jahre später in Algerien Methoden anwendet, die ihr allzu bekannt vorkommen. Sie macht sich die Einsicht eines französischen Arbeiterpriesters zu eigen, „dass die Franzosen, also wir von Hitler endgültig besiegt sind, wenn wir Folter Unrecht Demütigung anderer in unserem eigenen Land ohne Protest geschehen lassen.“ Wegen dieser Arbeiterpriester findet sie mit der Zeit Religion ganz gut, und sie rutscht auch wegen so einem in den neuen Widerstand hinein. Für die Familien von festgenommenen Algeriern trägt sie Kuverts mit Geld hin und her. Ihr Mann Jo findet s ideell richtig, was sie macht, aber im Gegensatz zu ihr sorgt er sich schon bald, „dass in diesem Kampf früher oder später Religion sich breitmachen wird, und zwar die Art von Religion, die sich für eine hält und nur ein Mittel ist zur Macht.“
Im Fortgang des Epos werden die Lesenden Zeuginnen davon, wie sich die hehren Ideen von Gerechtigkeit und Freiheit des Sozialismus und des Islam zu einer Ideologie verbinden, die zwar am Ende Befreiung bewirkt, aber zu diesem Zweck auch unvorstellbare Gewalt in Kauf nimmt. „Warum machst du da mit, Annette?“ fragt die Autorin einmal ihre Heldin. „Warum setzt du dein Leben ein für diese Leute? Nicht für diese Leute, wirst du sagen, sondern für alle, für die Menschheit, für das Prinzip von Gleichheit und Gerechtigkeit…“
Anne Weber gelingt es in ihrer epischen Erzählung, auch „diese Leute“ nicht zu verdammen, sondern als Individuen mit ihrer eigenen Geschichte und ihren eigenen Beweggründen zu zeichnen. Dabei kreist sie unablässig um die Frage nach den Träumen von einer gerechten Welt und nach der Wirklichkeit, in der es schon viel ist, wenn Menschen einander zuhören in Respekt vor dem Weg des jeweils anderen.
Ich finde das Heldinnenepos sehr lesenswert, weil es sich mit religiös und weltanschaulich motivierter Gewalt auseinandersetzt, weil es einen Zugang von innen her sucht, weil es die Geschehnisse aus dem Erleben einer alten Frau zu ergründen sucht und weil es gleichzeitig klar macht, dass der Weg ein anderer, ein friedlicher, sein muss.
Anne Weber hat für dieses Werk den Deutschen Buchpreis 2020 bekommen.
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Susanne Koelbl: Zwölf Wochen in Riad – Saudi-Arabien zwischen Diktatur und Aufbruch. Berlin: DVA, 2019.
Wie ein Laufbursche zum Ölminister wurde. Wie es sich lebt unter der schwarzen Abaja. Wie ein Deutscher die Wüste zum Blühen bringt. Wie ein Terrorist ins Alltagsleben zurückkehrt. – Drei Monate lang hat sich die Reporterin des SPIEGEL in Saudi-Arabien aufgehalten, ohne jegliche staatliche Einschränkung. Sie hat mit Mitgliedern des saudischen Königshauses gefrühstückt und sich mit Bin Ladens Bombenexperten getroffen. Sie hat Paare bei ihren Hochzeitsvorbereitungen und junge Frauen auf der Comic-Con-Messe begleitet. Sie hat mit Künstler*innen und Oppositionellen gesprochen. Konservative Männerclubs haben sie zum Wüstenpicknick eingeladen und selbstbewusste Frauen haben ihre Einsichten und Träume mit ihr geteilt.
Susanne Koelbl beobachtet den Umbruch und Wandel, der in einer der verschlossensten Gesellschaften der Welt stattfindet, mit kritischem Blick und offenem Herzen. Der alte Herrscher kränkelt, der neue Kronprinz Muhammad Bin Salman will das Land in die Zukunft führen: weg von der Abhängigkeit vom Öl hin zu einer offenen, modernen Wirtschaft. Bisher undenkbare Neuerungen werden über Nacht beschlossen; gleichzeitig bleibt der wahhabitische Islam die staatstragende Religion, und Kritiker*innen werden brutal ausgeschaltet. Die Autorin findet treffende Worte für diese Gegenwart: "Das alte Saudi-Arabien gibt es nicht mehr, das neue ist noch nicht da.“
Sehr lesenswert sind die sachlich und charmant geschriebenen Berichte und Analysen von Susanne Koelbl. Die Autorin gibt Einblick in ein Land, dessen Entwicklung für den Westen von grosser Bedeutung sein wird.
Leseempfehlungen von Hanna Kandal-Stierstadt, Beauftragte der Abteilung Kommunikation