Der Weg ist gut
Überraschend hell leuchtet die Oktobersonne vom wolkenlosen Himmel, als wir unsere Füsse zu den ersten Schritten unserer Pilgerwanderung in Bewegung setzen. Vergessen die etwas ärgerliche Rückkehr zur Wohnung in Porto, wo wir eine Regenjacke im Schrank vergessen hatten. Vergessen auch die Horden Touristen, die für Flussrundfahrten mit Portwein-Verköstigung lange Schlangen bildeten und die Hafenpromenade überfluteten. Nun stehen wir allein da, beim atlantiknahen «Jardim do Passeio Alegre», unsere 20-jährige Tochter und ich, bereit für unser selbstgewähltes Abenteuer.
Vor uns liegen 280 Kilometer des portugiesisch-spanischen Jakobswegs, den wir nur vom Hörensagen kennen. Mit uns tragen wir zwei ansehnliche Rucksäcke, beladen mit dem Nötigsten, das sich immer noch schwer anfühlt. Können unsere sorgsam ausgewählten Habseligkeiten wie ein Pijama, wenige Ersatzkleider, leichte Schuhe, Apotheke und Necessaire, Picknick-Utensilien und Knirps wirklich so schwer sein? Kaum haben wir die ersten Meter hinter uns, hupt uns ein Autofahrer wie zum Gruss. Sein Winken verrät, dass er unser Vorhaben erkannt hat und zu schätzen scheint; etwas verdutzt winken wir zurück. «Wenn Ihr bloss wüsstet...», scheint sein lachendes Gesicht uns zuzurufen.
Nein, wir wissen noch nicht, was uns erwarten wird. Noch hören wir nicht die tosenden Wellen des Atlantiks, noch spüren wir nicht die streichelnden Sonnenstrahlen im Gesicht oder den garstig peitschenden Wind an Regentagen. Wir ahnen noch nicht, wie hilfsbereit uns Einheimische in putzigen Dörfchen den richtigen Pfad weisen werden und wie international sich die pilgernde Schar ausnimmt. Noch kennen wir nicht die Widerwärtigkeit von tropfnassen Wanderschuhen und das Wohlgefühl einer warmen Dusche nach einem 18-Kilometer-Marsch mit 10-Kilo-Last auf dem Rücken.
Ecke um Ecke, Bucht um Bucht
Noch bleiben all diese Erfahrungen hinter unzähligen umzäunten und von aggressiven Hunden bewachten Gärten, hinter exotisch anmutenden Orangen- und Kiwibäumen, gepflegten Kirchenfassaden und endlos sich reihenden Buchten verborgen. Und das ist gut so. Schritt um Schritt, Ecke um Ecke, Kilometer um Kilometer, Bucht um Bucht – so geht das Vorankommen auf dem Küstenweg.
Über viele Jahre galt der Caminho Português da Costa als Geheimtipp, den Pilgerinnen und Pilger höchstens vereinzelt wählten. Tempi passati; seit dem Jahr 2013 ist der Weg gut beschildert und derzeit wandert bereits ein Viertel aller Pilgerinnen durch Portugal, ob nun im Landesinnern oder entlang der Küste. Längst hat sich herumgesprochen, wie attraktiv der Atlantikpfad besonders für Bewohner von Binnenländern daherkommt, wie gepflegt die Naturschutzgebiete an den Küsten sind, wie reichhaltig deren Fauna und Flora und wie gut sich in kleinen, privaten Herbergen übernachten lässt. Zudem eignet sich dieser sanfte, fast ebene Küstenweg auf Holzbohlen ideal für Einsteigerinnen; wer es länger und abenteuerlicher wünscht, legt schon zu Fuss in Lissabon los.
Die Schlichtheit jedes Tages
Uns genügt allerdings die «kurze« Etappe von Porto nach Santiago de Compostela mit klingenden Stationen wie Lavra, Vila do Conde, Póvoa de Varzim, Esposende, Viana do Castelo, Caminha und in Spanien Viladesuso, Baiona, Vigo, Redondela, Arcade, Pontevedra, Caldas de Reis und Padron. Jeden Tag bildet eine dieser Stationen ein fast unerreichbar wirkendes Ziel, vor das sich wie aus dem Nichts unzählige namenlose Dörfer mit endlos sich hinziehenden Aussenquartieren schieben. Auf vier Rädern würden wir unser Tagesziel in wenigen Minuten erreichen und so blicken wir ab und zu verstohlen auf eine verlassene Bushaltestelle im Grünen. Doch gleich wendet sich die Aufmerksamkeit wieder nach vorne, um ja nicht zu verpassen, wenn der Horizont den Blick auf eine neue Szenerie freigibt.
Wie höchst willkommene Streckenposten auf einem Marathon erscheinen uns Einheimische und Wandernde, die uns ein freundliches «Buon cammino» oder «buen camino» oder «bom caminho» entgegenrufen sowie die unzähligen variantenreichen Muschelsymbole mit Sonnenstrahlen, die an Hausfassaden, auf Strassenschildern bei Kreuzungen und gar an Blumentöpfen prangen. Ab Kilometer 170 vor Santiago richten sich unsere Augen immer öfter auf die steinernen Markierungen, die den Countdown der Kilometer in immer engeren Sequenzen ankündigen.
Indem das Ziel allmählich näher rückt und ein dienstbereiter Gepäcktransport das zähe Marschieren in ein leichtfüssiges Laufen verwandelt, wird der Körper entlastet und öffnen sich Geist und Seele noch stärker für die eindringliche Wirkung des gleichförmigen Schreitens und die Tiefenwirkung mannigfaltiger Sinneserfahrungen. Wie perfekt gestaltet ist doch die kleine Schnecke mit ihrem Häuschen auf dem Rücken, wie beruhigend und entspannend im Kastanienwald das Rascheln der Blätter unter den Füssen, ja, wie wohltuend jeder einzelne Tag in seiner Schlichtheit. Der Weg ist gut. Der Weg ist Gott, der mit uns geht. Der Weg sind wir, die uns einfach genügen und für einmal nichts erklären, nichts bewerten, nichts sagen müssen.
Dieses Glücksgefühl und die Befriedigung über die bewältigte Strecke tragen uns auf den letzten, harten Kilometern vor und um Santiago de Compostela, trotz Hüftschmerz und Fersenzwicken, auf Asphalt und über beachtliche Steigungen. Als wir den mit Pilgerinnen und Pilgern überfüllten Platz vor der majestätischen Kathedrale erreichen und unsere Hände wie zur Bestätigung auf ihre Fassade legen, wissen wir es schon: Der Weg war gut, der Weg geht weiter.●
Pilgerzentrum
Das Pilgerzentrum St. Jakob bietet ein reichhaltiges Programm, einen Pilgerstamm und seelsorgliche Begleitung für Rückkehrende. Die «Gemeinde vom Weg» kommt in der Citykirche Offener St. Jakob am Stauffacher in Zürich zu Feiern und Gedenkanlässen rund ums Pilgern zusammen.