Suche nach der Seele
Michel Lansel, wie würden Sie als Psychiater die Seele definieren? Und was sagt der Theologe dazu?
Da haben wir schon ein erstes Problem. In der Psychiatrie gibt es unterschiedliche Auffassungen darüber, was die Seele ist. Die materialistische Sichtweise negiert die Existenz einer Seele. Sie hat Abschied genommen von der jahrhundertealten Vorstellung einer Seele, die beim Ableben den Körper verlässt oder ausgehaucht wird. Der Begriff Psyche stammt ja vom griechischen psycho und das bedeutet hauchen. Dieses Bild der Seele, die nach dem Ableben des Körpers weiterlebt, begann nach der Aufklärung zu bröckeln. Man fragte: Lässt sich diese Seele messen und kam dann – anhand naturwissenschaftlicher Kriterien – zur Auffassung, dass es sie als Substanz nicht gibt.
Und gleichwohl befasst sich ein medizinisches Fachgebiet mit ihr…
In der Psychiatrie sagen die einen: Was man nicht messen kann, gibt es nicht. Andere dagegen schliessen sich dieser reduktionistischen Anschauung nicht an. Die erste Gruppe argumentiert streng materialistisch und geht davon aus, dass es sich beim Seelischen generell um körperliche Vorgänge handelt. Und dann gibt es Psychiater, die der Meinung sind, dass Seele weit mehr ist, als das, was messbar ist.
Gelten Hirnströme denn nicht als messbare Indizien?
Man kann zwar Hirnströme messen, etwa wenn man spricht oder denkt. Aber das ist nicht identisch mit dem, was man innerlich erlebt. Dieses Erleben lässt sich nicht bemessen, bleibt aber eine unbestreitbare Realität. Deshalb wurde die streng mechanistische Ansicht später infrage gestellt durch eine humanistische Psychotherapie. Diese wertet das Innenleben als zentral für den therapeutischen Erfolg und ist überzeugt, genügend gute Gründe zu haben, um weiterhin von einer Seele sprechen zu können.
Würden Sie sich selber dieser Sicht anschliessen?
Auf jeden Fall. Das innere Erleben ist für mich auch in der Praxis ganz entscheidend. Und dieses hängt zusammen mit der Beziehung zwischen Menschen; so ist auch der Erfolg einer Therapie abhängig von der Qualität der Beziehung zwischen Therapeut und Klient respektive zwischen Seelsorger und Seelsorgeempfänger. Die Qualität der Beziehung ist das eigentlich Bestimmende.
Damit sind wir nahe an einer theologischen Position…
Ja, hier verschränken sich Theologie und Psychiatrie. Aber es bleiben noch spezifische Elemente, die jeder Disziplin eigen sind.
Jetzt sind wir mitten in Ihrem Forschungsgebiet. Erzählen Sie von der Beziehung der Theologie und Psychiatrie.
Geschichtlich gab es Phasen der Annäherung beider Disziplinen und Phasen der Distanz, bis hin zur rigiden Abgrenzung. Die dialektische Theologie beispielsweise befürchtete, durch Integration eines materialistischen Menschenbildes die Grundlagen des Glaubens zu verraten. Umgekehrt verschliessen sich gewisse Psychiater theologischen Fragen, da sie den Glauben als neurotisches Symptom deuten. Weiter gibt es auch Positionen, wo man diese Autarkie der Disziplinen aufweicht und die anderen Methoden als Hilfswissenschaft einzubeziehen versucht. Heute scheinen indes nicht wenige Theologen eine Sichtweise der Gleichberechtigung und der sich verschränkenden Methoden zu bevorzugen.
Psychotherapeuten arbeiten aber anders als Seelsorger...
Ja, die Psychotherapie gibt relativ fixe Muster und Regeln bei der Zeitplanung und beim Ort des Gesprächs vor, die eine Distanz zwischen Klient und Therapeut markieren. In der Seelsorge sind unterschiedlichere Settings möglich, sie geschieht auch einmal informell – lässt mehr Nähe zu. Die Psychotherapie hingegen braucht zwingend eine sichere Distanz, damit man auch das Intimste zur Sprache bringen kann. Dies kann man in der Seelsorge nicht so gut bearbeiten. Dafür sind Glaubens- und Sinnfragen in einem Seelsorgegespräch besser aufgehoben.
Die Beichte – im weitesten Sinn ein Seelsorgegespräch – versuchte einst aber Fragen zur Sexualität auch zu therapieren…
Die Pflicht zur Beichte stellt für mich eher die Antithese zu echter Seelsorge dar, weil aufgrund des Autoritätsverhältnisses der Beichtende Dinge als Sünde bekennen muss, die er selber gar nicht so empfindet. Dann schweigt man lieber oder sieht sich gar gezwungen zu lügen! Echte Seelsorge und auch die Psychotherapie möchten aber den Menschen zur Freiheit und Selbständigkeit und zur Akzeptanz der eigenen Person führen, und dazu gehört essenziell der Aspekt der Authentizität.
Zurück zur Seelsorge. Was macht sie aus, worauf gründet sie?
Man kann das am Gleichnis des barmherzigen Samariters zeigen. Es zeigt die Radikalität der Seelsorge. Die Fürsorge, die hier an den Tag gelegt wird, geht weit über das hinaus, was man eigentlich erwarten darf. Der Samariter wendet sich einem Halbtoten zu, was aus Gründen der damals geltenden Reinheitsgebote schon ein heikles Unterfangen war. Dann pflegt er ihn, bringt ihn zur Herberge, wacht die ganze Nacht bei ihm, zahlt für ihn, und bittet den Wirt, ihm weitere Kosten später anzurechnen. Es gibt Menschen, die diese radikale Art der Fürsorge später gelebt haben – ein Albert Schweitzer, eine Mutter Theresa.
So etwas verlangt man von einem Psychotherapeuten nicht.
Die Psychiatrie hat eine andere Aufgabe. Sie soll den Menschen in die Lage bringen, sich in der Wirklichkeit zurechtzufinden. Das braucht eine Balance von Geben und Nehmen. Darum bezahlt ein Klient auch für eine Leistung. Die Geschäftsbeziehung unterstreicht wiederum die Bedeutung des Realitätsprinzips, das in der Psychiatrie bzw. Psychotherapie für die Förderung einer eigenständigen Entwicklung entscheidend ist.
Aber kann man von einem Seelsorger eine solche Aufopferung verlangen, wie sie der barmherzige Samariter vorlebt?
Selbst der barmherzige Samariter muss einmal weiterziehen. Das ist neben der Radikalität die andere Pointe des Gleichnisses. Es ist wichtig, dass der Seelsorger merkt, wenn ihm die Kapazitäten oder Kompetenzen fehlen und er betreuungsintensive Fälle besser abgibt. Auch umgekehrte Zuweisungen wären sinnvoll. Wussten Sie übrigens, dass Freud einmal gesagt hat, es sei ein Zeichen von Krankheit, wenn ein Mensch nach Sinn und Wert des Lebens fragt? Heute gibt es hingegen Psychiater, die Spiritualität als Ressource sehen und nutzen. Man spricht gegenwärtig sogar von der «spirituellen Psychotherapie».
Arbeiten Sie mit solchen Methoden?
Nicht direkt. Aber bei mir werden Spiritualität und Sinnfragen oft zum Thema, vor allem, wenn die Klienten erfahren, dass ich auch Theologe bin.
Wie kam es dazu? Gab es einen bestimmten Auslöser dafür?
Ich stellte mir schon nach der Matur die Frage: Medizin oder Theologie? Ich hatte dann das Gefühl, dass ich mich zuerst erden muss. Ich war ein Träumer und suchte deshalb eine handfeste Ausbildung. Aber schon während des Studiums hat mich das Psychologische, Geistige mehr interessiert als das Somatische. Ich habe dann kurz vor Abschluss des Medizinstudiums begonnen, mich intensiv mit den alten Sprachen zu befassen. Nach dem medizinischen Abschlussexamen war ich eineinviertel Jahre als Assistenzarzt tätig und habe anschliessend Theologie bis zur ersten Zwischenprüfung studiert. Dann wechselte ich in die Psychiatrie und habe Jahre später, nach Eröffnung einer eigenen Praxis, weiter- und fertig studiert und schliesslich auch noch eine Dissertation geschrieben.
War Religion in Ihrer Familie ein Thema?
Leider nicht. Aber mir hat das gefehlt. Und ich begann dann irgendwann selbst die Bibel zu lesen, suchte darin nach Halt. Daraus entstand dann auch das Bedürfnis, dies alles besser zu verstehen und im eigenen Leben zu verankern.
Welche Reaktionen löst Ihr Grenzgang aus – was sagen Theologen – was sagen Psychiater über Sie?
Ich weiss ja nicht, wie ehrlich sie jeweils sind. Aber ich habe das Gefühl, dass die Psychiater sich fragen, ob ein Theologe auch ein guter Psychiater sein könne. Und die Theologen in etwa ähnlich, aber mit umgekehrten Vorzeichen. Auf jeden Fall weckt die Kombination immer Interesse, und das ist es vielleicht auch, worauf es ankommt und was mich natürlich sehr freut.●
Michel Lansels Dissertation erscheint diesen Sommer unter dem Titel «Seelsorge und Psychotherapie im Dialog. Gemeinsamkeiten – Unterschiede» im Verlag rüffer&rub.