Bettagsbotschaft 2024: «Interreligiöse Beziehungen stärken den religiösen Frieden und den gesellschaftlichen Zusammenhalt»
«Ihr seid doch über die Massen reich in jeder Beziehung.» 2Kor 8,7
Der Kirchenrat zum Eidgenössischen Dank-, Buss- und Bettag am 15. September
Mit Verweis auf die in der Bundesverfassung verankerte Glaubensfreiheit forderte 1859 ein junger, umtriebiger Zürcher Landpfarrer und Mitglied des Grossen Rats die Niederlassungsfreiheit für Jüdinnen und Juden im Kanton. Zur Prüfung der Motion befragten Regierungsrat und Obergericht die Bezirke nach in den letzten Jahren durch Juden verursachten «Übelständen». Die Mehrheit der Behörden hatte nichts Nachteiliges zu melden und befürwortete eine Gleichstellung. 1862 kippte das Kantonsparlament die diskriminierenden Gesetze.
Im selben Jahr hatte der neu ins Amt als Staatsschreiber berufene Dichter Gottfried Keller sein erstes Bettagsmandat abzuliefern. Der Entwurf liess den Zürcher Regierungspräsidenten ratlos zurück. Kurzerhand ersetzte er die Schrift durch eine genehmere. Keller hatte sich erdreistet, dem «nicht kirchlich gesinnten Bürger» zuzugestehen, er könne auch ausserhalb der Kirchenräume «mit stiller Sammlung dem Vaterlande seine Achtung beweisen».
Diese Bemerkung hätte sich mühelos aus dem Mandat streichen lassen, wäre nicht der ganze Text Kellers mit Provokationen gespickt gewesen. Doch 76 Jahre später wurde ausgerechnet ein Satz aus diesem Mandatsentwurf zum Schmuck des Rathauses erhoben. Wer die Eingangshalle betritt, liest in grossen Lettern: «Lass unser Vaterland niemals im Streit um das Brot geschweige denn im Streit um Vorteil und Überfluss untergehen.»
Ein weiterer Absatz aus dem abgelehnten Mandat lässt aufhorchen, zumal ihm heute höchste Aktualität zukommt. Keller nimmt Bezug auf die aufgehobenen antijüdischen Gesetze und lobt den Entscheid als über- und gottgefällig: «Der von Euch erwählte Grosse Rat, liebe Mitbürger, hat mit einigen wenigen Paragraphen das seit Jahrtausenden geächtete Volk der Juden für unsern Kanton seiner alten Schranken entbunden, und wir haben keine Stimmen vernommen, die sich aus Eurer Mitte dagegen erhoben hätten. Ihr habt Euch dadurch selbst geehrt, und Ihr dürft mit diesem Gesetze, das ebensosehr von der Menschenliebe wie aus Gründen der äussern Politik endlich geboten war, am kommenden Bettage getrost vor den Gott der Liebe und der Versöhnung treten.» Es sei nun an den Kantonsbürgern, das geschriebene Gesetz zu einer «fruchtbringenden lebendigen Wahrheit» zu machen, indem sie den Entfremdeten und Verfolgten freundlich entgegengingen und sie in ihre Mitte aufnähmen. «Was der verjährten Verfolgung und Verachtung nicht gelang, wird der Liebe gelingen.»
«Ihr seid doch über die Massen reich in jeder Beziehung: reich an Glauben, Einsicht, Erkenntnis, an jeglichem Bemühen und an der Liebe», schreibt Paulus nach Korinth (2Kor 8,7). Unsere Landeskirche spricht selten von ihrem Reichtum, stärker beschäftigt uns bereits seit Jahrzehnten das Thema, dass wir kleiner und ärmer werden. Mag das auf die nackten Mitgliedszahlen zutreffen, so bleibt doch anderes aus dem Blick: Wir werden durchaus auch reicher und in vielem grösser.
So trat 2006 im Kanton Zürich eine neue Kantonsverfassung in Kraft, die neben drei christlichen Kirchen auch zwei jüdische Gemeinden anerkennt. Bereits zwei Jahre zuvor wurde in der Woche nach Bettag der Interreligiöse Runde Tisch im Kanton Zürich gegründet. Die beiden grossen, aber kleiner werdenden Kirchen wollten ihre Beziehungen mit den kleinen, aber grösser werdenden Religionsgemeinschaften aktiv gestalten. Zukunftsträchtige Projekte entstanden aus dieser Zusammenarbeit. Schritt für Schritt wurde die Seelsorge an öffentlichen Institutionen interreligiös aufgestellt.
Der Interreligiöse Runde Tisch stellte sich auch schwierigen Themen wie fundamentalistisch motivierten Terroranschlägen (Charlie Hebdo, Bataclan, Christchurch), dem Vernichtungsangriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 gegen Israel und dem Krieg Israels in Gaza. Den antisemitischen Angriff anfangs März in der Stadt Zürich verurteilte der Runde Tisch in einer Stellungnahme scharf und verpflichtete sich dazu, «alles in seiner Macht Stehende zu tun, um den Frieden zwischen den Religionsgemeinschaften bei uns im Kanton Zürich zu bewahren und zu stärken.» Dass die interreligiösen Beziehungen auf einem starken Fundament gelebt werden, zeigte eindrücklich die Menschenkette von Jüdinnen und Muslimen, die sich als Zeichen gegen Gewalt über den Zürcher Lindenhof erstreckte.
Grösse und Reichtum unserer Landeskirche lassen sich nicht allein an der Entwicklung der Mitgliedszahlen und des Finanzertrags ablesen, sondern auch daran, wie wir in der Gesellschaft unterwegs sind, was wir auszurichten haben und wie wir das Miteinander mit anderen Glaubensgemeinschaften pflegen. Möge der staatlich verordnete Bettag die Menschen, die in unserem Kanton leben, miteinander verbinden und uns daran erinnern, dass es nicht lohnt, «im Streit um Vorteil und Überfluss unterzugehen», sondern dass wir ungemein reich sind «in jeder Beziehung: reich an Glauben, Einsicht, Erkenntnis, an jeglichem Bemühen und an der Liebe».
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Bettagsbotschaft 2024
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